Exposé des Adressen-Textes
Die Icherzählerin Christine
G., Künstlername Frederike Frei, wohnt
in Hamburg-Altona in der Großen Brunnenstraße
96, 3. Stock links und schaut auf die Straße.
Sie befindet sich in der Mitte des Lebens und
glaubt sich schriftlich nur das Wörtchen ich. Zu Vischer besteht ein räumlich
entferntes Verhältnis. Bald gegen Anfang
des Berichts (zur Not kann man es Roman nennen),
bricht sie den Kontakt ab, einer anderen Liebschaft
wegen, die er begonnen hat. Sie wartet in ihrem
Zimmer wie eine Spinne auf Vischer selbst, der
sich für sie entscheiden soll. Er kommt erst
am Ende des 'Romans', weil sie ihn einlädt.
Die Gefühle schlagen hoch, und zwar die zu
ihrer Adresse, obwohl ihr deren Wortlaut (Anklänge
an Große Brust, Große Brunst) letztlich
peinlich sind. Die Stellung der Zahlen in ihrer
Hausnummer erinnert sie an eine Fellatio, bevor
sie ihren Irrtum erkennt. Sie muss sich schon
meilenweit von der Liebe entfernt haben...
Die Protagonistin plaudert aus dem Nähkästchen.
Nähkästchen hat mit Nähe zu tun,
und auch der Ariadnefaden weist auf das Urbild
Straße. Die Begeisterung für die eigene
Adresse, diese adrette Mätresse, ist der
Affe, den oder der sie reitet und als Zeichen
der Identität das Thema des Buches.
Die Adresse ist für sie die Utopie der Literatur.
Diese hält denselben Kriterien stand. Der
Besitz einer Adresse macht den Adressaten groß
und unverwechselbar. Im übrigen besitzt jeder
eine, denn jeder befindet sich im Fadenkreuz von
Zeit und Raum. Von der RAF (fiktive Absender auf
Bekennerschreiben) bis zum Teddybär (Adresse:
Badezimmer, Gummmibaum, 1. Astgabel von unten)
wird das Thema durchgespielt. Mit dem Größenwahn
einer Straßenbesitzerin (im Adressenstempel)
grenzt sie sich von allen Nachbarn ab (es fehlt
nur noch ein Straßenschlüssel). Täglich
werden die Fremden, die notwendigen Mitbesitzer
der Straße, im Kopf bekämpft. Die Ichfigur
interviewt ihre Freunde nach der persönlichen
Bedeutung ihrer Straßennamen für sie,
sowohl lautlich als auch inhaltlich; schlägt
außerdem vor, Straßen nach Dingen
zu benennen, statt nach Personen, weil sich Dinge
leichter lieben lassen. Kinder und Erwachsene
in ihren Kursen erleben, dass selbst erfundene
Künstlernamen das eigene Ich genauer treffen.
Fehlerhafte Schreibweisen ihrer Adresse auf ihrer
Post - die von Vischer lässt sie zurückgehen
- stürzen die Erzählerin in wunderliche
Verzweiflung. Zahlen sind die Konkurrenz.
Aufgrund eines vom Institut für Zukunftsforschung
falsch adressierten Briefumschlags spricht sie
von sich als dem Großen Bruman. Der Große
Bruman erkundet im Heimatmuseum die Geschichte
der Großen Brunnenstraße vom Urwald
an, dessen Bäume in Hamburg-Ottensen rauschten.
Der Große Bruman erforscht auf seine eigene
Art den Unterschied zwischen Weg und Straße,
stöbert den historischen Großen Brunnen
auf, möchte ihn wieder zum Sprudeln bringen
und beginnt einen Briefwechsel darüber mit
dem Einwohnermeldeamt.
Als Volkszählerin begegnet die Icherzählerin
anderen Wohnungen und ihren Insassen. Durch ihre
Geschichts- bzw. Geschichtenforschung stößt
sie auf für sie bedrohliche Situationen,
die ihre merkwürdigen Ängste vor dem
Fatum ihres Straßennamens mehren. Das Massengrab
der Obdachlosen aus dem Jahre 1813 liegt bei ihr
genau um die Ecke. Es ist die Erdmannstraße.
Und der Altonaer Brand, exakt hundert Jahre später,
1913, bringt sie dem Feuer näher, das sie
immer mied. Ein Schock ist für sie die Nachricht,
dass Brunnen und Brennen dieselbe Wurzel haben.
Ein ganzes Kapitel widmet sich der Geschichte
ihrer bisherigen Adressen, es geht um die Wechselwirkung
zwischen Adresse und Werdeweg. Brunnen erinnert
sie an die Lieder ihrer Kindheit, gleichzeitig
wird sie getrieben von der Angst, dass das Kind
(in ihr) in den Brunnen fallen soll. Märchenbuch,
Bibel und Tageszeitung werden durchforstet nach
Brunnen. Sie sucht und findet groteske Trostbotschaften.
Vischer wohnt solo am Neuen Garten 16. Mit einer
Flasche Christinenbrunnen erkennt sie seine andere
Liebe als eine, die er sich nur zur Verstärkung
gegen sie selbst geholt hat. Die Liebe zu Vischer
entbrennt. Es geschieht das, was kein Leser für
möglich hält. Sie zieht aus. |
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Auszug aus dem Adresse-Text
(...) Einer geschenkten Adresse guckt man nicht in die Fresse.
Irgendwie ist mir mein Straßenname aber
auch unangenehm. Die meisten denken bei Brunnen
wohl an den Quell, mir aber fällt dazu das
Ratespiel Stein, Schere, Papier ein. Damit
gehöre ich zu den heimtückischen Spielverderbern,
die mit Daumen und Zeigefinger noch zusätzlich
Brunnen bauen, um zwei Fliegen mit einer Klatsche
zu erschlagen. Windige Typen sind das, die sich Brunnen ausgedacht haben. Brunnen verringert die
Chancen für den Mitspieler um die Hälfte,
weil beides, Stein u n d Schere hineinfallen und
sich jeder, der das benutzt, unbeliebt macht.
Das Große verrät mich. Die Unbescheidenheit,
das Unmaß, das Gernegroße meiner Person
liegen klar auf der Hand. Ich, 160 cm hoch und
dann Große Brunnenstraße? Soll die
doch erstmal in einer Pfütze üben, bevor
sie sich so aufmotzt. Ich muss mein Geständnis
etwas deutlicher fassen: Mein Straßenname
ist mir schriftlich ein Fest, doch mündlich
eine Qual. In jedem Telefonbuch steht die Große
Brunnenstraße da wie ein Monument, warmherzige
Buchstaben, doppelt gemoppelte Wörter auf
Papier, malerisch und bedeutend. Doch zwischen
den Lippen mutiert das Ganze zum Glibber, zum
Brei. Und der ist mir nicht nur unangenehm, sondern
sogar furchtbar peinlich. Sobald ich aufgefordert
werde, den Namen meiner Straße wem ins Gesicht
zu sagen, wörtlich, mündlich, schäme
ich mich für ihn und muss ihn im selben Moment
mit leichter Zunge herausrücken, sonst verrate
ich mich.
Das Bru! steht mir bevor. Ich muss die Lippen
schon spitzen wie zum Kuss, noch bevor ich Stimme
geben kann, und das jedwedem Wildfremden gegenüber,
der es falsch auffassen könnte, womöglich
persönlich nehmen. Ich versuche schon immer,
es mit breiten Lippen zu sprechen, um mein gleichgültiges
Alltagsgesicht beibehalten zu können, doch
dann versteht man mich nicht, schaut mir jetzt
erst recht auf den Mund und verfolgt mit Argusaugen
die Geburt des Bru, das sich umso schwerfälliger
über die Lippen wälzt.
Gleich zu Beginn dieser plumpe Labiallaut B, dazu
das rollende, grollende r und dann noch der dumpfste
aller Vokale, das u. Als gäbe ich für
einen Moment die Sicht auf eine in mir brodelnde
Brühe frei wie ein Vulkan den Blick in seine
Lava. Ich kann nur froh sein, dass die n's anschließend
das Ganze doppelt und dreifach verneinen, so dass
man ganz erschöpft, aber befreit in die -straße einmünden und dafür endlich den Mund
aufreißen darf, um ihn fest zuschnappen
zu lassen am Satzende beim Punkt. Brunnen - das
klingt nicht nach wasserheller Quelle, das klingt
nach Loch, nach Stumpf und Sumpf. Da fällt
etwas durch, das erinnert an Durchfall, hört
sich an wie Plumpsklo, das steht in keinem guten
Geruch.
Und manchmal werde ich sogar noch gebeten, meine
Adresse laut und deutlich zu wiederholen. Eine
Zumutung. Ich gebe letztlich lauthals mein Liebesverhältnis
preis. Denn das Wort Adresse entsteht durch Kontraktion
von adrette Mätresse. Große Brunnen klingt wie Große Brust, Brunft, Brut oder Große Busen oder Großmutterbrust,
mit einem Wort, es klingt wie Große Brunst.
Jeder weiß: Die hat große Brunst.
Nackt wie ein Lycheeleib steh ich da, was für
ein Früchtchen. Man kann mir augenblicklich
in meine schmalen Male schauen, meine hautweichen
Öffnungen, meine offengelassenen Augen und
Ohren. An mir soll man sich laben, heißt
das, von mir soll man trinken. Bei der kann man
sich bedienen, die will geleert sein bis auf den
Grund. Sobald ich Brunnen sage, fließe ich
aus allen Poren, laufe aus, vergehe wie das blutflüssige
Weib, die schwarze Maria. Großmutter, warum
hast du so große Brunnen? Damit ich dich
besser schlürfen kann, dich wegschwemmen,
hinunterziehen auf den Brunnengrund, huhu, du
Norne, Nurne, Urne... Da schlammt's und schnakt's,
da walkt's und schmoddert's. Unkenkalt da unten,
das Wasser steht, steht auf der Stelle, auch du
stehst auf der Stelle, trittst auf der Stelle,
du stinkst, du Zisterne, du Zasterdirne, du LiteratHure,
Himmel, ich liefere mich doch restlos aus!
Alle tun so, als sei es nur eine Formalität,
die Adresse zu nennen, dabei hören sie mit
beiden Nüstern zu, tun sich gütlich
an den Worten, schlürfen ihren schlüpfrigen
Sinn und kochen ihr Süppchen drauf.
"Ihre Adresse bitte", wirft mir der
Mann im Einwohnermeldeamt hin, guckt mich an über
seinen Brillenbügel und zieht die Lippen
zusammen wie einen Häkelbeutel. Ich mach
den Mund auf und steh da im Hemd. Und er weidet
sich dran mit roten Ohren, durch die die Sonne
scheint.
Auch meine Hausnummer lässt tief blicken,
sobald ich sie hersagen soll.
Weil er mir sein Manuskript vorbeibringen will,
erkundigt sich einer, wo ich wohne. Als ich mich
schon auf dem Fahrrad davonschwinge, fällt
ihm noch die Frage nach meiner Hausnummer ein.
"Sechsundneunzig!", rufe ich über
die Schulter zurück, laut durch die stockdunkle
Nacht, weil ich schon weit gekommen bin und immer
weiterkomme. Ich gewinne Abstand in jeder Beziehung.
Man kann mich also dabei erwischen, wie ich nachts
lauthals eine Zahl durch die Straßen rufe.
So locker, ja geradezu lose habe ich mir die 96
noch nie angehört. Ich bin mir sogar im Moment
nicht ganz sicher, ob es sich überhaupt um
meine Hausnummer handelt und nicht um irgendein
frivoles Angebot. Alleinstehend kenne ich sie
gar nicht wieder. Sexundneunzig - meint das nicht
das Zuckerschlecken eines ineinandergetriebenen
Liebespaars? Ich werfe einem mir fernstehenden
Herrn diese eindeutliche Zahl an den Kopf. Wie
wird er sie auffassen? Fühlt er sich zweideutlich
eingeladen? Kommt morgen schon vorbei? Mich reut
diese 96 in der Schwärze der Nacht. Eine
Kennziffer, eine Kennenlernzahl, Kennnummer, Erkennungsnummer,
als sei ich ein bürokratischer Vorgang im
Sinne von Briefkürzeln Meine Zeichen / Ihre
Zeichen. Ich hätte zurückrufen sollen:
"Und Ihre Zeichen? Machen Sie den Mund auf!
Los, raus mit der Sprache: Ihre Zeiiichen?!"
Und von weit hinten aus der Ferne hätte man
einen Fußgänger mit dünner Stimme
vielleicht rufen hören: "frb/dan/hi!"
- so unverständlich wie alle diese Abkürzungen.
Zu Hause entdecke ich meinen Irrtum und bin noch
blamierter, wenn auch nur vor mir selbst. Wie
kann ich die 96 für eine Fellatio mit Cunnilingus
halten? Kopfüber, kopfunter, doch Rücken
an Rücken - wie soll das gehen? Ich muss
mich schon meilenweit von der Liebe entfernt haben.
Ich erinnere ja nicht einmal mehr, wann ich zuletzt
an Vischers Engelhaken hing. (...) |
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