Zimmergazette vom Binnenleben

Kolumnenlyrik und Zeichnungen (Foto von Louis Ulrich)
jeweils im Zeitungsdruck in DIN A 3 und A 4
12 Seiten
Druck Anfang 1994

Zimmergazette

Kommentar

Ich schreibe Lyrik und Prosa. Die Leute lesen aber weder Lyrik, noch Prosa, sondern Zeitung.

Meine Gedichte sind Nachrichten, die ich in der Tagespresse vermisse. Zufällig sehen sie wie Kolumnen aus. Immer dieser Flattersatz in der Lyrik. Wie sieht das denn aus. Bei mir ist jede Zeile gleichlang, ordentlich und gerecht. Nichts steht über, ragt raus, stört. Eine gut gestutzte Hecke: echt deutsch und wirklich innerlich.

Umgekehrt lese ich Zeitung wie Lyrik, jede Zeile für sich. Im Zeilenbruch findet man ganz neue Wörter! Die kapitali/stisch betriebene/ Wirtschaft... Kapitali! Und wie wird Wirtschaft betrieben? Stisch. Jetzt weiß man's.

Jede Nachricht steht doch in Form von Lyrik ganz anders da. dpa hat ja keine Ahnung. Letzten Endes ist jeder Zeitungskiosk ein Elfenbeinturm.

Zimmergazette

DAS HOTEL

Ich persönlich könnte genausogut tot sein. Hauptsache, Leute wie ich machen die Stadt schön groß. Wie die Gäste sich mitten in Hamburg fühlen und doch hausen sie nur auf dem fetten roten Fleck der norddeutschen Landkarte. In meiner Gegend leben welche auf dem Mond. In den zieht man doch nicht ein. Vielleicht sollte ich mich diesen Finnen und Fremden, diesen Frauen und Franzosen einmal vorstellen? Sicher wollen sie wissen, wie die Ferne aussieht in der Nähe. Sehen Sie, auf diesen Kantstein stelle ich meine Füße, den Briefkasten dort suche ich täglich heim, hier diese Litfaßsäule lasse ich immer links liegen und verrenn mich abends in meine Wohnung, in der mir niemand über die Schultern guckt, wenn ich z. Beispiel zum Staubtuch greife oder doch? Hätten Sie Interesse? Meinen ganzen Hausstand könnt ich für Sie auf die Straße schleppen. Kommen Sie! Treten Sie näher! Das ist mein Müslischüsselchen morgens, so sieht es aus, das sind meine beiden Auffülllöffel, hier ist meine aktuelle Abwaschbürste, sie ist mir ans Herz gewachsen, wie oft sie mir beisteht. Zweimal täglich hab ich Erfolg mit ihr auf der ganzen Linie. Hochstöckig sieht die Hotelfront über mich hinweg, kehrt mich zum Asphalt. Die Säule vorm Portal steht sich ihr Bein in den Leib, glatt aus Stein. Wie weit man hier abliegt vom Schuß

Zeichnung

MORGEN

Kaugummiblau der Morgen, minzfrisch. Tauben auf dem Dach, Türken ein Stock tiefer. Eierschale Fassade. Nichts rührt sich, Nachbars schlafen, ohne sich zu mucksen. Einfach alle rausreißen aus dem Schlaf. Aus der Traum! Krach schlagen mit frühen Vögeln, Sturm klingeln bei deutschen Übermietern. Wie selig sie sind und stumm, sternhagelstumm, gar nicht neugierig auf den Kampf, ‚heller Himmel gegen dunkle Nacht', der muß doch nicht immer gut ausgehen? Sie schwänzen die Stille, die vogelfette Morgenstille. Der erste Augenblick ist der schönste beim Kaugummikauen. Danach zieht es sich.

 
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